Kommentar zu den chinesisch-deutschen Beziehungen: Stabilit?t in Zeiten des Wandels suchen
von Prof. Dr. Wu Huiping
Vor fünfzig Jahren haben die Regierungen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland entschieden, das dicke Eis zu brechen und offizielle diplomatische Beziehungen aufzunehmen, trotz der Tatsache, dass sich beide L?nder hinsichtlich des politischen und gesellschaftlichen Systems in gro?em Ma?e unterscheiden. Viele hatten sich damals kaum ausmalen k?nnen, dass die chinesisch-deutschen Beziehungen einmal zu derartiger Intensit?t und Vielfalt reifen würden. Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen ist nun ein halbes Jahrhundert verstrichen. Heute stehen beide L?nder erneut an einem wichtigen Scheideweg. Meines Erachtens sind die Wahrnehmung, der Grundton und die politisiche Neuausrichtung beider L?nder in Bezug auf drei grundlegende Fragen beachtenswert.
Erstens geht es darum, wie man die Merkmale des Zeitalters erfasst. Angesichts gro?er Ver?nderungen setzen beide L?nder in ihren Strategien darauf, sich als wahre ?global player“ zu positionieren und ihr jeweiliges Mitspracherecht bei der regionalen wie globalen Governance zu mehren. In diesem Kontext sind beide L?nder, China wie Deutschland, aktiv dabei, zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen. Aus der Sicht Chinas steht die Welt heute vor einem Jahrhundertwandel. Mit seiner in jeder Hinsicht signifikant wachsenden St?rke und merklich verbesserten internationalen Stellung erhofft sich China eine noch selbstbewusstere Gangart mit der Welt und offeriert mehr chinesische L?sungsans?tze in regionalen wie auch internationalen Angelegenheiten. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf der anderen Seite hat jüngst eine ?Zeitenwende“ festgestellt und damit Umdenken in der deutschen Politik eingeleitet. Nun werden in Deutschland die Stimmen lauter, die eine führende Rolle in Europa, wenn nicht sogar weltweit fordern. Die deutsche Forderung nach einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde erneut gestellt. Die Bundesregierung arbeitet gerade daran, sich sowohl au?en- als auch sicherheitspolitisch neu auszurichten und eine nationale Sicherheitsstrategie auf den Weg zu bringen. Geplant ist zudem, den Verteidigungshaushalt aufzustocken, um Deutschlands milit?rische St?rke zu erh?hen. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten wird die Milit?rpr?senz im Indo-Pazifik wieder sichtbar. Parallel dazu leitet die Bundesregierung einen Kurswechsel in ihrer Au?en- und Sicherheitspolitik ein, wobei die bisher praktizierte Leitidee vom ?Wandel durch Handel“ zunehmend über Bord geworfen und die Diversifizierung als neue au?enpolitische Strategie angestrebt wird.
Zweitens geht es meiner Meinung nach um die Frage, wie beide L?nder die bilateralen Beziehungen definieren. Die bis dato anhaltende Pandemie, die fortw?hrenden regionalen Konflikte mitsamt ihren Folgen haben das geopolitische Bewusstsein der Europ?er gesch?rft. Dies führt dazu, dass für westliche Politiker sowie einige Denkfabriken und Medien der Systemwettbewerb zunehmend in den Vorgrund rückt. Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen liegt es China am Herzen, eine umfassende strategische Partnerschaft mit Deutschland zu pflegen. China m?chte, dass die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit eine Vorbildfunktion für die Entwicklung der chinesisch-europ?ischen Beziehungen spielt. Die Volksrepublik ist zudem gewillt, im Umgang mit Deutschland und Europa neue Entwicklungsmodelle und alternative Wege des Fortschritts aufzuzeigen, die auf den Gegebenheiten des Landes beruhen und sich von denen des Westens unterscheiden. Auf der Gegenseite versuchen Deutschland und Europa derweil, die chinesisch-europ?ischen Beziehungen neu aufzustellen. Sie bemühen dabei den Dreiklang von China als Kooperationspartner, Wettbewerber und systemischem Rivalen und betonen, dass China immer mehr zum systemischen Rivalen werde. Mit vermehrten geopolitischen Einflussfaktoren gehen inzwischen mehr Kontroversen und Konflikte zwischen China und Deutschland einher.
Nicht zuletzt geht es meines Erachtens auch um die Bewertung externer Abh?ngigkeiten. Unter dem Eindruck der Entglobalisierung, der neuen technologischen Revolution sowie bestehender regionaler Konflikte gestaltet sich die internationale Konstellation in Politik, Wirtschaft sowie Wissenschaft und Technologie komplex und wechselhaft. Vor diesem Hintergrund schenken sowohl China als auch Deutschland Themen wie Resilienz von Wertsch?pfungsketten und selbst?ndiger Innovation immer gr??ere Beachtung und versuchen Balance zwischen Eigenst?ndigkeit und internationaler Zusammenarbeit zu halten.
China hat als Reaktion auf solche überlegungen seinerseits die Schaffung eines neuen Gefüges der wirtschaftlichen Entwicklung forciert, bei dem der inl?ndische Wirtschaftskreislauf die Hauptstütze der Wirtschaft darstellen soll, der sich mit dem internationalen Kreislauf erg?nzt. Trotz des in- und ausl?ndischen Drucks arbeitet das Land daran, Durchbrüche in Schlüsseltechnologien zu erreichen, um selbst?ndige Innovationen in Wissenschaft und Technologie vorzunehmen. Auf der anderen Seite des eurasischen Kontinents werden in Deutschland unterdessen die Stimmen lauter, die eine geringere Abh?ngigkeit von anderen L?ndern fordern. Sie gelten nun als allgemeiner Konsens und Grundton der deutschen Politik. Der CDU-Au?enpolitiker Norbert R?ttgen etwa sieht Deutschland in der Gefahr dreier Abh?ngigkeiten, n?mlich von Russland bei der Energie, von den USA im Bereich Sicherheit und von China in Bezug auf Wirtschaft und Handel. Angetrieben von solchen überlegungen sind die Bemühungen Deutschlands zur Reduzierung einseitiger politischer, wirtschaftlicher sowie sicherheits- und energiepolitischer Abh?ngigkeiten l?ngst in Gang. Man sucht l?ngerfristig nach neuen Partnern, etwa in Asien und Afrika, aber auch in Lateinamerika.
Deutsche Investitionen in China: Die Arbeiten zum Aufbau eines neuen BASF-Verbundstandorts in Zhanjiang sind in vollem Gange. (Foto: Xinhua, 27. Februar 2022)
In den vergangenen 50 Jahren haben sich die diplomatischen Beziehungen und die Zusammenarbeit beider Seiten als denkbar robust erwiesen. Politisch wie diplomatisch f?hrt China gegenüber Deutschland im Gro?en und Ganzen einen stabilen Kurs ohne gro?e Unvorhersehbarkeiten. Manche vorteilhafte politische Ma?nahmen, die China im Zuge der Reform und ?ffnung ergriffen hat, kommen Deutschland zugunsten der bilateralen Beziehungen zugute. Hier ist der Versicherungskonzern Allianz SE zu nennen, der als erster ausl?ndischer Versicherer eine eigene Asset-Management-Gesellschaft in China etablieren durfte.
Umgekehrt wird in der China-Politik Deutschlands nach jahrelanger Stabilit?t in jüngster Zeit aber eine merkliche Nachjustierung wenn nicht sogar Neuausrichtung spürbar. Konkret schl?gt sich dies in der überbetonung geopolitischer Faktoren, einem zunehmenden Abbau der Abh?ngikeit vom chinesischen Markt und einem st?rkeren Schulterschluss mit den USA und Europa nieder. Doch abgesehen davon k?nnen beide L?nder bei ihrer Zusammenarbeit noch immer auf ein vergleichsweise bruchfestes Fundament bauen. Europas geographische Lage bedingt, dass der Kontinent sich hinsichtlich der politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen ma?geblich von den USA unterscheidet. Um seine St?rke zu bewahren, muss Europa im Geiste der strategischen Autonomie handeln. Andererseits sollten die Entscheidungsfinder in Deutschland Problemen und Mankos im Hinblick auf interne Solidarit?t, Sicherheit und Verteidigung sowie auch die Gefolgschaft gegenüber den USA nüchtern ins Auge sehen. Europa sollte vermeiden, sich in eine Zwickmühle von wirtschaftlicher Rezession, knapper Energieversorgung und Lebensmittelengp?ssen zu begeben. Fehl am Platze w?re auch, Hauptprobleme und Widersprüche auf die Abh?ngigkeit von China abzuw?lzen, wobei die Auswirkungen wirtschaftlicher Abh?ngigkeiten unn?tig hochgespielt werden, genauso wie die vermeintlichen Gefahren für die ?ffentliche Sicherheit in Deutschland durch ?unzuverl?ssige“ Hersteller. De facto unterwerfen sich in Europa t?tige chinesische Unternehmen einer weitaus strengeren Glaubwürdigkeitsprüfung als europ?ische Unternehmen.
Allgemein anerkannt ist in Wirtschaftskreisen beider L?nder zudem, dass gegenseitige Abh?ngigkeiten in Wirtschaft und Handel einen gemeinsamen Nutzen bringen. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich die politischen Kontakte eher zurückhaltend gestalten, erweisen sich die Wirtschaft und Handel als Motor dafür, die chinesisch-deutschen Beziehungen zu stabilisieren und weiter zu vertiefen. Seit 2016 ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Die Direktinvestitionen aus Deutschland in China beliefen sich in der ersten H?lfte des laufenden Jahres auf zehn Milliarden Euro. Es ist das st?rkste Halbjahr des 21. Jahrhunderts für deutsche Direktinvestitionen in China. Deutsche Unternehmen wie Daimler, Volkswagen, BMW und ALDI sind gerade dabei, ihre China-Gesch?fte auf verschiedenen Wegen auszuweiten. Besonders erw?hnenswert ist, dass der deutsche Chemieriese BASF Ende Juli bekanntgegeben hat, die abschlie?ende Genehmigung für den Bau eines zweiten Verbundstandorts in der Stadt Zhanjiang in der südchinesischen Provinz Guangdong zu erteilen. BASF kündigte an, bis 2030 bis zu zehn Milliarden Euro in das Megaprojekt zu investieren. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist auf Handelskooperation mit anderen L?ndern in h?chstem Ma?e angewiesen. Es ist für Deutschland unvorstellbar, sich von der Welt, einschlie?lich China, abzukoppeln. Die gro?e Mehrheit der deutschen Unternehmen, die in China vertreten sind, ist nicht bereit, den riesigen chinesischen Markt mitsamt seinem dynamischen Wachstum in Bereichen wie Chemie und Elektromobilit?t aufzugeben.
Sowohl China als auch Deutschland treten dafür ein, eine offene und pluralistische Welt aufzubauen und die internationale Zusammenarbeit auszuweiten, um den regionalen und globalen Frieden zu wahren und den Dialog über Sicherheitsfragen aufrechtzuhalten. Beide L?nder sprechen sich dagegen aus, dass Gro?m?chte gewaltsam nach Einflusssph?ren streben oder diese untereinander aufteilen. Seit alters her pl?diert China dafür, den Austausch und das gegenseitige Lernen zwischen den Zivilisationen zu f?rdern und neuartige Beziehungen zwischen Gro?m?chten aufzubauen. China begrü?t die friedliche Beilegung internationaler Konflikte und Streitigkeiten und vertritt die Auffassung, dass die verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme in Ost und West die wohlüberlegte Wahl jedes einzelnen Landes darstellen. Und diese Wahl stützt sich auf die jeweiligen eigenen Gegebenheiten, Mentalit?ten und historische Hintergründe.
Systembedingte Unterschiede dürfen nicht zum Hemmnis für die Entwicklung oder die Vertiefung bilateraler Beziehungen werden. Hierfür ist es ratsam, dass sich die neue China-Strategie Deutschlands nicht auf die Idee einer begrenzten Zusammenarbeit und geopolitisches Denken beschr?nkt. Stattdessen ist es angebracht, Differenzen zurückzustellen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen sowie die Differenzierung und Einzigartigkeit von Gesellschaftssystemen und historischen Entwicklungspfaden zu respektieren. Beruhend auf dieser Pr?misse sollten wir uns von den Denkmustern des Kalten Krieges, n?mlich der Aufteilung der Welt in Freund und Feind, l?sen und die Realit?t anerkennen, dass Wettbewerb und Kooperation nebeneinander bestehen.
Gegenw?rtig tauchen immer wieder neue komplexe Herausforderungen auf, die zeitbedingt sind und globale Auswirkungen haben. Alle L?nder sind gemeinsam schwierigen Situationen ausgesetzt. Als Folge werden der Globalisierungsprozess und das weltweite Wirtschaftsgefüge, die seit dem Ende des Kalten Krieges stets auf internationaler Arbeitsteilung und Zusammenarbeit beruhten, in Mitleidenschaft gezogen. Wetter- und Klimaextreme nehmen stetig zu, globale Pandemien wie COVID-19 hemmen die wirtschaftliche und soziale Ordnung der L?nder in aller Welt immens, und regionale Konflikte, wie der zwischen Russland und der Ukraine, haben zu sekund?ren Herausforderungen wie regionalen Sicherheitskrisen und Energieversorgungsengp?ssen geführt. Die Folge: Europa hat nun mit einem langwierigen Zermürbungskrieg zu k?mpfen.
Alles im allem gestaltet sich das Umfeld für internationale Kontakte also turbulent. Das geht natürlich auch an den chinesisch-deutschen Beziehungen nicht spurlos vorüber. Diese entpuppen sich als immer komplizierter. In Anbetracht all dieser Umst?nde ist es umso wichtiger, die chinesisch-deutschen Beziehungen langfristig auf einem stabilen Kurs zu halten, um den Herausforderungen der Zeit erfolgreich begegnen zu k?nnen. Die chinesisch-deutsche Partnerschaft sollte st?rker auf gemeinsame Interessen und grundlegenden Konsens ausgerichtet werden, um gemeinsam nach Kompromissl?sungen zu suchen und die Zusammenarbeit in Bereichen wie Umweltschutz, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung sowie Kultur zu vertiefen. Gelingt dies, werden China und Deutschland eine noch wichtigere Rolle dafür spielen, die globale Lage zu stabilisieren und zur L?sung der gro?en globalen und aktuellen Probleme beizutragen.
Wu Huiping ist Professorin der Tongji-Universit?t und promovierte an der Technischen Universit?t Darmstadt. Sie ist als stellvertretende Direktorin des Deutschlandforschungszentrums der Tongji-Universit?t t?tig, Dekanin der Deutschen Fakult?t und stellvertretende Direktorin des Chinesisch-Deutschen Zentrums für Gesellschaftlich-Kulturellen Austausch.