Shanghaier Ghetto: Ein jüdischer Zeitzeuge erz?hlt Exklusiv
Von Elke Lütke-Entrup, Beijing
Shanghai wurde ab dem Jahr 1938 zum Zufluchtsort vieler Juden aus Deutschland und ?sterreich. China geh?rte zu den wenigen Staaten, in denen die von den Nationalsozialisten verfolgten Menschen Aufnahme fanden. Tausende Familien kamen mit Schiffen in die von Japan besetzte Hafenstadt, wo es bereits zwei jüdische Gemeinden gab. Rund 20.000 Menschen überlebten dort den Holocaust. Harry Jorysz (83) emigrierte 1938 im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern nach Shanghai und blieb dort bis 1950. China.org.cn hat mit ihm über das Leben im chinesischen Exil gesprochen.
Harry Jorysz
China.org.cn: Herr Jorysz, wie kam es in Ihrer Familie zu der Entscheidung, nach Shanghai auszuwandern?
HarryJorysz: Mein Vater war drei Monate im Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen. Er wurde nur unter der Bedingung entlassen, dass er Deutschland innerhalb von einer Woche verl?sst. Für die Einreise nach Shanghai brauchte man kein Visum. Meine Eltern wollten einfach nur weg. Ich habe das als Kind gar nicht so mitbekommen. Als mein Vater vom KZ zurückkam, war ich gerade bei meiner Oma in Hof und habe dort mit meinen Cousins gespielt. Meine Mutter hat mich dort abgeholt.
Wie erlebten Sie Ihre Reise nach Shanghai und die Ankunft dort?
Das Schiff, mit dem wir Ende November von Genua aus starteten, imponierte mir. Eine 20-k?pfige Kapelle, alle ganz in wei?, spielte am Hafen zum Abschied. Ich kann mich noch an die gro?en Blash?rner erinnern. Als wir nach einer vierw?chigen Fahrt im Dezember 1938 ankamen, gingen wir zuerst in ein englisches Boardinghouse, ein kleines Hotel mit Restaurant. Dort war schon alles festlich geschmückt, und in der Eingangshalle stand ein riesiger funkelnder Weihnachtsbaum. Beim Abendessen kam der Kellner mit einem englischen Pudding. Sp?ter zogen wir in das Haus eines Engl?nders, in dem schon eine jüdische Familie und ein jüdisches Ehepaar wohnten. Jede Familie hatte ihr eigenes Stockwerk mit Küche und Bad.
Der 5-j?hrige Harry auf dem Schiff nach Shanghai 1938
Wie sah ihr Alltag aus?
Uns ging es vergleichsweise gut – besser als den jüdischen Flüchtlingen in den Lagerhallen in Shanghai, die auf Feldbetten schliefen. Ich fuhr jeden Tag mit der Tochter der anderen Familie mit der Rikscha zur jüdischen Schule, in der auf Englisch unterrichtet wurde. Auf dem Weg stand an jeder Ecke ein Sikh-Polizist, der den Verkehr regelte. Es waren auch viele chinesische Polizisten und englische Offiziere da. Mein Vater war gelernter Kaufmann. Er kaufte Obst, Getr?nke und Whisky von Schiffen am Hafen von Shanghai an und verkaufte sie an Restaurants und Bars weiter. Sein zweites Einkommen verdiente er sich als Pianist. Er erteilte Klavierunterricht, gab Konzerte zu verschiedenen Anl?ssen wie Hochzeiten und spielte in einem Nachtclub. Das war unser Glück. Nur etwa 4.000 Juden fanden damals Arbeit in China. Die anderen sa?en die Zeit ab, auch Rechtsanw?lte und Handwerker. Wir hatten immer eine chinesische ?Amah“, eine Kinderfrau und Haush?lterin. Ansonsten war der Kontakt mit Chinesen auf Einkaufen und Dienstleistungen beschr?nkt. Im Jahr 1943 mussten wir Juden auf Betreiben von Hitler in einen ausgewiesenen Bezirk im Stadtteil Hongkou, ziehen, wo jede Familie nur ein Zimmer hatte. Wer das Ghetto verlassen wollte, musste sich einen kleinen runden Anstecker an die Kleidung heften.